600 Seiten stark ist das neueste Werk von Ulrike Draesner “Die Verwandelten”, und es war definitiv mein Buch des Monats Februar! Draesner eröffnet mit den erzählten Frauenbiografien und -schicksalen in der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ein einzigartiges und gewaltiges Panorama von weiblicher Resilienz, dem Aushalten und Weiterleben nach missbräuchlichen Erfahrungen in einem zeithistorisch und gesellschaftlich belastenden Kontext bis hin zu transgenerationellen Wirkmechanismen.
Ein Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen konnte!
Die Handlung vollzieht sich im Schwerpunkt in Wroclaw (Breslau), die Protagonistinnen des Romans sind oftmals miteinander verbunden und finden doch nicht wirklich zueinander. Da wäre Else, verheiratet mit dem depressiven Marolf, beide sind die Eltern von Reni. Diese wiederum wächst phasenweise mit ihrer Halbschwester Alissa, der Tochter der Köchin Adele (diese hat ein Verhältnis mit Marolf) auf, ohne von diesem Umstand zu wissen. Adele wird zunächst gedrängt, Alissa in ein Lebensborn-Heim zu bringen, später erfolgt eine Zwangsadoption. Der Verein Lebensborn war während der NS-Zeit zu dem Zweck gegründet worden, die Geburtenzahl arischer Kinder anzuheben und damit als ‚Quelle und Brunnen‘ (Born) für wachsende Rassenreinheit zu fungieren. Aus Alissa wird nach dem Umzug zu ihren Adoptiveltern Gerd und Gerda schließlich Gerhild. Das Dreiergespann Gerd, Gerda und Gerhild passt perfekt in die nationalsozialistische Idee, wäre da nicht ein Geheimnis von Gerd, den es besonders erregt, wenn er Gerda ritzen darf und Blut fließt. Gerda ist eine Vorzeige-NS-Frau, die – obwohl keine leiblichen Kinder – anderen Frauen Unterweisung in Sachen Kindererziehung gibt. Alissa verwandelt sich also in Gerhild und findet einen eigenen Ausdruck für ihre Entwurzelung. Sie läuft und läuft und läuft, immer wieder weite Strecken und entzieht sich so der elterlichen Kontrolle. Es ist eine besonders anrührende Stelle, als Gerhild aka Alissa den Grund für ihre Wanderungen nennt: „Ich suche meine Mama.“
Draesner gibt den Frauen jener Zeit eine Stimme
Als Reni und Else Breslau kriegsbedingt verlassen müssen, erleben sie Schlimmstes. Sehr eindringlich schildert der Text die traumatisierenden Erlebnisse von Mutter und Tochter, die von Missbrauch und unerträglichen Demütigungen geprägt sind. Den Leser:innen stockt spätestens hier der Atem, und gerade dieser Teil ist nichts für schwache Nerven. Mutter und Tochter gehen buchstäblich verwandelt aus den Geschehnissen hervor, kommen jedoch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Während Else mit Marolf aus Breslau flieht, versteckt sich Reni, um zu bleiben. Die Bindung an die räumliche Heimat scheint stärker zu sein als das Band zu den Eltern. So gibt Reni sich den polnischen Namen Walla und erlebt – wie auch ihre Halbschwester Gerhild – einen Verlusts ihrer bisherigen Identität und schlüpft in ein neues Leben, ist also eine der ‘Verwandelten’.
“Das 20. Jahrhundert zeigt seinen Bauch”
Die nächste Generation – Kinga und Doro
Mit Kinga und Doro, den Töchtern von Gerhild und Walla, tritt die nächste Generation auf den Plan. Kinga hat nach Gerhilds Tod eine Wohnung in Wroclaw geerbt und trifft auf Doro und damit auf bislang nicht gekannte Verwandtschaft. Intuitiv spüren beide das Band zwischen ihnen, das auf dem Konzept von transgenerationellem Erleben fußt und die Wirkmacht von Erlebnissen der vorangegangenen Generation auf die Nachkommen verdeutlicht.
Was macht den Roman so lesenswert?
Ulrike Draesner weist den Frauen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten paradigmatische Schicksale zu und zeigt damit auf, dass weibliche Unterdrückung keine Frage der sozialen Zugehörigkeit ist. Sprachlich behutsam, mitfühlend und dennoch klar zeitweise schonungslos beschreibt die Autorin weibliche Erlebnisse in einer schwierigen Zeit. Sie gibt damit explizit den Frauen eine Stimme (zurück). Die Konstruktion des Romans ist klug, die Sprache bildschöpferisch, ohne Effekthascherei zu betreiben. Trotz der geschilderten Handlung ist der Romankein Opfertext, sondern eine starke literarische Beschreibung. Ein ergreifendes Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte!