„Der blonde Eckbert“ ist ein kurzer Text und daher besonders geeignet, wenn man mal wieder zu einem „Klassiker“ greifen möchte. Erstmalig 1797 erschienen, wird hier eine Erzählsituation geschildert, die zunächst Normalität suggeriert. Zur Geisterstunde erzählt Bertha, Eckberts Frau, dem gemeinsamen Freund Walther ihre Kindheitsgeschichte und betont deren Wahrhaftigkeit: „Nur haltet meine Erzählung für kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag.“
Worum geht’s?
Was nach Berthas Erklärung folgt, ist eine Erzählung erlebter kindlicher Traumata, denn die junge Bertha leidet unter dem lieblosen Vater, hält sich mit Tagträumen nach Reichtum und Wohlstand über Wasser und flieht schließlich aus dem elterlichen Haus. Nach einer einsamen und verzweifelten Wanderung, eröffnet sich ihr schließlich ein märchenhaft anmutender Ort, der von einer alten, schwarz gekleideten Frau mit Krückstock bewohnt ist. Die Figur der Alten lässt an eine Hexe denken und weckt Erinnerungen an Hänsel und Gretel, aber so einfach ist die Sache hier nicht. Denn die Alte bei Tieck ist ambivalent konzipiert, sie singt beispielsweise ein geistliches Lied und verhält sich damit widersprüchlich zu dem evozierten Hexen-Typus. Zudem ergeht es Bertha in der kommenden Zeit sehr gut, sie lebt glücklich mit der Alten, einem wundersamen Vogel (das Lied von der ‚Waldeinsamkeit‘ singend und Edelsteine legend) und einem liebenswerten Hund zusammen. Neben hauswirtschaftlichen Tätigkeiten lernt Bertha auch lesen: „[…] ich begriff es bald, und es ward nachher in meiner Einsamkeit eine Quelle von unendlichem Vergnügen […].“ Das Lesen ist es auch, das Berthas Tagträume wiederaufleben lässt und den Wunsch nach einem Leben mit einem schönen Ritter befeuert. Die eindringliche Mahnung der Alten, nicht vom tugendhaften Weg abzuweichen, missachtet Bertha. Inzwischen 14 Jahre alt, zieht es sie hinaus aus dem paradiesischen Zuhause. Und so bindet Bertha zu einem günstigen Zeitpunkt den Hund an, nimmt den wertvollen Vogel mit sich und verlässt das Haus der Alten.
Bertha erreicht das Dorf ihrer Kindheit und kommt damit wieder in der ‚Realwelt‘ an. Dort angekommen, erfährt sie vom Tod der Eltern, denen sie mit dem durch den Vogel neu gewonnenen Reichtum nun nicht mehr zu Wohlstand verhelfen kann. Auch das Lied des Vogels begleitet diese dunkle Phase:
Und dann?
Berthas Geschichte endet recht plötzlich mit dem Bekenntnis, dass sie Eckbert schon lange kannte, „und hiermit, Herr Walther, ist meine Geschichte geendigt.“ Eckbert liefert noch ein Bekenntnis zu Berthas damaliger Schönheit und seiner Armut, die durch den mitgebrachten Reichtum Berthas endete.
Die Schlüsselstelle des Texts folgt, als Walther den Namen des Hundes nennt, den er nicht kennen kann, da er die Geschichte Berthas zum ersten Mal hört. Dies trifft Bertha so tief ins Mark, dass sie fortan krank darnieder liegt und schließlich stirbt.
Nun ist es Eckbert, der – womöglich von Wahnsinn getrieben – Walther tötet und hin und hergeworfen wird zwischen der ‚realen Welt‘ und dem Märchen- und/oder Wahnhaften. Er lernt mit Hugo einen weiteren Freund kennen, verfällt jedoch immer mehr irrationalen Wahrnehmungen, flieht von Ort zu Ort, bis er zu einem Hügel kommt. Dort hört er einen Hund bellen und jemanden das Lied von der Waldeinsamkeit singen. Dieser Umstand beraubt ihn schließlich seines Verstandes. Er ist bei der Alten angekommen, die den Schlusspunkt unter Eckberts Existenz setzt. Denn nicht nur erklärt sie Eckbert, dass sie sowohl Walther als auch Hugo ist/war, daneben enthüllt sie, dass Bertha und Eckbert Halbgeschwister waren:
„Eckbert lag wahnsinnig und verscheidend auf dem Boden; dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und den Vogel sein Lied wiederholen.“
FAZIT oder Warum soll man das lesen?
Obwohl die Geschichte Märchenmotive verwendet, ist eine Kategorisierung als Märchen schwierig. Dass liegt nicht nur am Bekenntnis Berthas zu Beginn ihrer Erzählung, dass es sich bei ihrer Geschichte keinesfalls um ein Märchen handelt, sondern auch beispielsweise an der ambivalenten Rolle der Alten, die eben nicht durchgängig als Hexe zu erkennen ist.
Trotz des schlichten Erzähltons ist „Der blonde Eckbert“ komplex konstruiert und arbeitet mit gleitenden Übergängen, Binnen- und Rahmenhandlung verschwimmen zunehmend.
Vor allem aber, bietet die Geschichte keine Auflösung. Der Wahnsinn Eckberts wäre eine Erklärung in einem ‚realistischen‘ Umfeld, die Erklärung der Alten aber ist wundersam und märchenhaft. Die Leser:innen drehen sich also im Kreis bei dem Versuch, eine vernünftige Erklärung der Vorgänge zu finden oder anders gesagt: „Der blonde Eckbert“ ist ein großartiger Text, kurz, leicht zugänglich und doch rätselhaft und unauflösbar.